Dieser Text war die Grundlage unserer Gespräche der ersten Woche im sechs-wöchigen Seminar zu den Upaniṣaden 2020. Ich möchte ihn an dieser Stelle zum allgemeinen Lesen zur Verfügung stellen.
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Die klassischen Texte und Schulen der indischen Philosophie können in drei Epochen eingeteilt werden: Die vedische, die epische und die scholastische. Aus der vedischen Epoche, die uns an dieser Stelle genauer beschäftigen soll, stammen die Quellentexte des philosophischen Denkens aus Indien – ungefährer Zeitraum zwischen 1500-600 v. Chr. Es handelt sich dabei um die Veden, die Einsichten von rishis, von Sehern und die Upaniṣaden, philosophische Weiterführungen der Veden. Die Veden stellen zum ersten Mal die Frage nach dem Ursprung, nach der Verfasstheit Gottes. Die Frage: ekam sad?
Es steht zur Diskussion, ob die unterschiedlichen Namen der Gött*innen auf nur eine Gött*in, auf nur einen Ursprung verweisen. Die Vorstellung einer Schöpfung aus dem Nichts, der creatio ex nihilo, wie sie dem Christentum beispielsweise bekannt ist, wird bezweifelt. Die Upaniṣaden beschäftigt die Einheit von brahmanund ātman, dem Quell aller Dinge und dem Selbst des Individuums. Die Befreiung moksha bleibt immerwährendes Ziel dieses Denkens, das aber niemals seine Analytik und Reflexivität zum Nutzen einer Erlösungslehre aufgibt.
Die erste kosmologische Spekulation kann im Ṛg Veda gefunden werden. Dieses Lied formuliert die Sehnsucht nach dem Urgrund, sowie gleichzeitig der Zweifel aufgeworfen wird, ob das Gewusste auch das Gesuchte ist. Die Veden wurden nicht von genannten Autor*innen verfasst, sondern sind immer schon neu für die Menschen aufbereitet, mündlich überliefert, ihr Ursprung bleibt der Spekulation überlassen.
Die Upaniṣaden sind die philosophische Hinwendung zu den Veden, beschäftigen sich mit dem in den Veden gebildeten Begriff der universellen Realität. Sie unterscheiden sich durch die Verabschiedung des Opferrituals im Tatsächlichen, um sprechend nach den gleichen Zielen zu streben. Das konkrete Opfer wird durch Klang ersetzt, der in magischer Verbindung zum Ding vermutet wird.
Wo das Wort mit der Sache übereinstimmt, hat es magische Bedeutung.
Oder anders formuliert, vermag man eine Sache richtig anzusprechen, ihr den richtigen Namen zu geben, so wird man ihrer mächtig, kann die Umstände beeinflussen. Der die Sache benennen kann, vermag auch jenes zu beeinflussen, das fern von seinem aktuellen Ort des Lebens liegt – das Metaphysische.
Die Upaniṣaden sprechen von Unzweiheit, der Einheit von Brahman und Atman, dem Umfassenden und dem einzelnen Selbst. Bekannt ist die Art des verneinenden Sprechens in den Upaniṣaden – neti-neti – es ist nicht jenes und auch nicht dieses. Die große Einheit wird in ihrer Nichtbeschreibbarkeit definiert.
Der Ausdruck Upaniṣad bedeutet sich setzen, zu einer Lehrer*in, einfach zusammen, in weitem Sinn kann auch von einer Bedeutung gesprochen werden, die In-Beziehung-Setzen als Interpretation erlaubt.
Die Situation der Upaniṣaden kann als die eines kleinen Dorfes beschrieben werden, das in Gemeinschaft mit anderen Dörfern von einem Häuptling regiert wird, die Entstehungszeit der älteren Upaniṣaden, ist noch nicht von Urbanisierung gezeichnet.
Die Rezeption der Upaniṣaden im deutschsprachigen Raum geht auf die Übersetzung von Paul Deussen zurück, der 1897 einen Text mit dem Namen „Sechzig Upaniṣad’s des Veda“ veröffentlichte, in dem er unterschiedliche Texte zusammenfügt, um sie im Geiste des Philosophen Śhankara zu übersetzen.
1. Was sind die Upaniṣaden I?
„Das vedische Opfer war nicht nur eine Zeremonie, die eine Reihe kanonischer Handlungen verlangte, sondern ein spekulativer Wettstreit, bei dem man sein Leben riskierte. (…) Und zwar aus zwei Gründen: entweder weil der Disputant auf eine Frage nicht hatte antworten können oder weil er eine Frage zu viel gestellt hatte.“[1]
Die Upaniṣaden werden als orthodoxe[2] Philosophie bezeichnet, sie sind brahmanisch[3], sie nehmen ihren Ausgang in den Veden, die eine Sammlung von Unterweisungen sind, wie das Opfer richtig auszuführen ist. Sie helfen die Gött*innen günstig zu stimmen, die Hoffnung ist das Geschenk eines friedvollen und glücklichen Lebens.
Alles Sichtbare, die sich verändernden Wolken, der Wald, Gewässer, die Früchte der Natur sowie das Unbekannte, sind göttlich inspiriert. Gött*innen sind die Träger*innen kosmischer Kräfte, Mensch bittet sie im Ritual um Güte.
Die vedische Tradition ist in Konflikt mit anderer Kosmologie. Sie behauptet die radikale Einheit des Existierenden. Individuum und Kosmos sind eine einzige Kraft, die nur als phänomenale Welt unterschiedlich erscheint.
„Nach dieser brahmanischen Formel manifestiert sich in der Dialektik des Universums ein transzendentes, nichtdualistisches, transdualistisches, aber immanentes Prinzip, das die Welt der Namen und Formen (nāmarūpa) hervorbringt und zugleich als belebendes Prinzip beseelt.“
Wir haben es folglich mit einer Einheit zu tun, die beides ist, Material oder Substanz und gleichzeitig Wirkkraft.
„Der Dualismus einer natura naturans (prakriti) und einer transzendenten unstofflichen Monade (purusha) ist damit selbst transzendiert.“[4]
Vor diesem Hintergrund ist unmittelbar einleuchtend, dass das brahmanische Denken nicht einfach, nicht klar oder eindeutig ist. Lassen wir uns auf diese Suche ein, nehmen wir es mit dem Unverständlichen, mit dem Paradoxen und dem permanenten Zweifel auf. Womit zum ersten Mal sichtbar wird worin sich die Upaniṣaden von den Veden unterscheiden werden. Es ist der Zweifel an den Gött*innen, es ist der Wunsch nach Forschung, nach dem permanenten Widerlegen und Überarbeiten des Bekannten, was die erste Philosophie Indiens und eine der ersten Philosophien der Welt ausmacht.
Was ist Philosophie?
Philosophie, so wird in diesem Kontext behaupten, ist das nicht Hinnehmen des Überlieferten, Philosophie ist ausgezeichnet durch den Respekt, den man einer Tradition erst dann erweist, wenn man den Mut hat, sie in Frage zu stellen.
„Von Anbeginn an kreiste das brahmanische Denken um das Paradoxon, daß die Kräfte und Formen der Erscheinungswelt sich gleichzeitig in Antagonismus wie auch in Identität befinden; und das Ziel war, die geheime Macht hinter, in und vor allen Dingen als deren verborgene Quelle zu erkennen und wirksam zu lenken.“[5]
Die bloße Erkenntnis ist nicht genug, wie im Ritual der Veden bleibt es der Wunsch der upaniṣadischen Reflexionen positiven Einfluss auf das alltägliche Leben zu nehmen. Auch wenn uns zeitgemäß die Vorstellung merkwürdig erscheint, können die Upaniṣaden als Naturphilosophie oder sogar Wissenschaft bezeichnet werden, die uns ermöglichen möchte, die Welt, den Kosmos, das Drama der Existenz zu verstehen, um den eigenen Standort, die eigene Rolle in diesem Ganzen kennen zu lernen.
Eine alte Form von Naturforschung!
In diesem Kontext entstehen zwei Wege des sich-Annäherns, einer, der sich mit den äußeren Phänomenen beschäftig, um Erkenntnis zu erlangen und ein anderer der das Selbststudium in Angriff nimmt.
„[Es gibt zwei Hauptrichtungen der Forschung.][6] Die erste suchte die Antwort auf die Frage: «Welches ist die eine und einzige Substanz, die sich vermannigfaltigt hat?», sie sucht die höchste Macht hinter den Gestaltungen der äußeren Welt. Die andere dagegen richtete den Blick nach innen und fragte: «Was ist die Quelle, aus der die Kräfte und Organe meines eigenen Daseins hervorgegangen sind?»“[7]
Diese alte Form der Naturforschung machte sich daran unterschiedliche Erscheinungen der Welt zu vergleichen, ihre Entstehungsgeschichten zu verfolgen, um immer wieder zu erkennen, dass die vermeintlichen Ursprünge so unterschiedlich nicht sind. Die Spekulationen über die Dinge der Welt enden immer wieder am Orte einer gemeinsamen Kraft, am Ort einer Kraft die es auszeichnet eine solche der Selbstverwandlung zu sein. Die Gött*innen, so lautet die Annahme, treten unterschiedlich maskiert auf, um sie ansprechen zu können, muss man um ihre Wandlungsmöglichkeit wissen, sie mit ihren tatsächlichen Namen benennen können. Diese Kraft des Sich-Verwandeln-Könnens wird als māyā bezeichnet, die Sprachwurzel mā bedeutet soviel wie bereiten, bilden oder bauen. Die Gött*innen können damit als Kräfte verstanden werden, die sich in unterschiedlicher Architektur zeigen, sie sind nicht Gestalt, sondern besitzen die Gabe sichtbar werden zu lassen.
Womit noch einmal zurückgekommen sei zum vedischen Opferritual, das den philosophischen Überlegungen der Upaniṣaden vorausgeht. Eine Hauptrolle in dieser Welt spielt Agni, das Feuer.
Die Glut
Agni steht im Zentrum des vedischen Rituals. Dem Feuer wirft man die Gaben in seinen Schlund, Agni kann sie verdauen. Das Feuer trägt die Geschenke der Menschen, gebettet in Flammen und Rauch, in Richtung Gött*innenhimmel. Agni tritt in unterschiedlicher Form auf, er ist die Feuerstelle im Haus, die leuchtende Sonne und dazwischen der Blitz.
Wer ist Agnis Familie? Zur Zeit der Veden wird Feuer durch das Reiben zweier Hölzer produziert, das Holz wird vom Wasser genährt. Agni ist Kind des Holzes und Enkel des Wassers? Nicht nur! Die Wolke bringt Agni als Blitz hervor, er ist Kind des Wassers. Agni steckt unter der menschlichen Haut, er ist die Körpertemperatur und das Verdauungsfeuer. Die Speisen, so die Vorstellung, werden in den Eingeweiden gekocht und in diesem Sinne wird die Galle, die die Verdauung fördert, als die wichtigste Manifestation des kosmischen PhänomensFeuer im Einzelnen beschrieben.
Es war die Aufgabe der Priester um diese Zusammenhänge zu wissen, ihre magischen Handlungen dementsprechend zu organisieren. Diesen konkreten Verbindungslinien folgend kommt die Forschung der vedischen Zeit zu allgemeinen Identifikationen. Der Makrokosmos ist Äquivalent des menschlichen Organismus, beide entsprechen in ihren Elementen den Aspekten des Opferrituals. Womit einsichtig ist: Das Opferritual hat die Macht sowohl Einfluss auf die Welt als auch auf den Körper zu nehmen.
Die Upaniṣaden reagieren mit der Abschaffung des Rituals und damit der inhaltlichen und praktischen Dimension, dieses speziellen Gottesdienstes, auf die überlieferte Situation. Was übrig bleibt sind die Äquivalenzen.
„Damit wurde das Problem der Äquivalenz oder parallelen Struktur des Universums (A) und der menschlichen Natur (B) der einzig anwendbare Schlüssel zum Verständnis, und das Problem der Einzelheiten beim Opfer (C) wurde unwichtig. So hob eine Periode hervorragender spekulativer Forschung an, in der die geheime Übereinstimmung von Fähigkeiten und Kräften des menschlichen Körpers mit entsprechenden Mächten der Außenwelt eingehend und von allen möglichen Seiten her studiert wurde, um auf dieser Grundlage die Natur des Menschen erschöpfend auszudeuten, seine Stellung im Universum zu verstehen und damit hinter das Rätsel des allgemein-menschlichen Schicksals zu kommen.“ [8]
Eine der schillernden Gestalten dieses Übergangs ist Yājñavalkya. Das Wort Yājña, der erste Teil seines Namens, bedeutet Opfer, -valkya bleibt in seiner Herkunft unklar. Sein Wissen hat Yājñavalkya von der Sonne – Āditya – empfangen, er weiß, Wissen ist Glut. Sonne und Erkenntnis fallen in eins, ihre treibende Kraft ist das Feuer, die Glut – Tapas – das sich ohne Ruhepause erhitzen. Erkenntnis erhält seine Wirksamkeit nur, wenn es zum Glühen bringt. Die Wissenden suchen ihr Äquivalent in der Sonne.
Yājñavalkya
Yājñavalkya ist kein farbloser Gelehrter, sowie er nicht als weltabgewandter Mönch beschrieben wird. Vielmehr liebt er das Risiko, zeigt sich als Krieger der Wissenschaften. Er steht im Mittelpunkt von gefährlichen Situationen und ist ein Provokateur.
Eine bekannte Geschichte lässt ihn an einem Wettstreit im Wissen um die letzten Dinge auftreten. König Janaka lädt ein. Anlässlich dieser Veranstaltung erklärt Yājñavalkya die Möglichkeit das Opferritual zu verlassen und dennoch in Verbindung mit dem Kosmos zu treten.
Der König beginnt seinen Gast zu testen. Seine erste Frage lautet, wie er wohl opfern möchte, wenn keine Milch zum Opfern vorhanden wäre. Janaka spricht ein Ritual mit dem Namen agnihotra an, es ist Milch, die im Zuge dessen geopfert wird. Yājñavalkya antwortet: Ich würde mit Reis und Gerste opfern. Der König gibt nicht auf, er fordert Yājñavalkya immer wieder heraus, egal welche Frucht der Natur dieser als Opfergabe nennt. Was wird geopfert, wenn genau dieses nicht da ist?
Schlussendlich soll Wasser geopfert werden, aber was opfern, wenn es kein Wasser mehr gibt?
„Dann gäbe es hier überhaupt nichts mehr, und dennoch würde geopfert: die Wahrheit (satya)im Vertrauen (śraddhā).“[9]
„Śraddhā ist das vedische Axiom: die Überzeugung – nicht beweisbar, aber in jeder Tat stillschweigend vorausgesetzt –, dass das Sichtbare auf das Unsichtbare einwirkt und vor allem das Unsichtbare auf das Sichtbare.“[10]
Yājñavalkya kommt zu dem Schluss, dass am Ende die Wahrheit als Äquivalent aller Opfergaben einstehen kann, Śraddhā – das Vertrauen, die glühende nach der Wahrheit suchende Liebe – ist Feuer. Die Wahrheit brennt im Feuer des Vertrauens, anstelle Milch über der Flamme. Wir haben den Schritt vom Opfer hin zur Spekulation getan!
„Yājñavalkya stellt sofort die beiden wesentlichen Punkte einer jeden Opferhandlung heraus: die Substitution und die Transposition aus dem Sichtbaren in die Ordnung des Geistes.“[11]
Die Überlegungen der Upaniṣaden gehen im Folgenden oft schematisch, vor. Beispielsweise wurde eine Zeit lang die Auffassung vertreten, dass Erde, Feuer und Wasser ihre Entsprechungen finden im Atem, der Sehkraft und der Haut des Menschen. Pflanzen und Bäume fanden ihre Entsprechungen in Muskeln, Mark und Knochen. Die Aufgliederungen waren nie von Dauer und wurden von den nachfolgenden Denker*innen aufgelöst, gemeinsam bleibt das Suchen nach Äquivalenzen, nach Verbindungen oder Kommunikationsmöglichkeiten. Die einzelnen, vielleicht absurd anmutenden, Auflistungen brachten jedoch eine wichtige Sache mit sich, sie despersonalisierten das Universum, die Autorität der alten Gött*innen konnte zugunsten einer speziellen Form von Naturwissenschaftlichkeit untergraben werden. Wissenschaftlichkeit? Dieser Begriff will hier genau auf diese Leistung der ersten indischen Philosoph*innen verweisen: Sich die Freiheit zu erlauben, neue Beschreibungen der Welt auszuprobieren, um diese dann wieder zu verwerfen. Die Upaniṣaden sind undogmatisch, sie sind Schriften über Suche und das Ausprobieren, sie wollen nicht belehren, sondern zum genauen Beobachten motivieren.
Glaube nicht immer gleich das Erste, das du für richtig hältst, sondern beginne dort erst deine Suche nach der Wahrheit. – So könnte ein Lehrsatz dieser alten Weisen lauten.
„Alles was in einer göttlichen persona – oder einer sonst greifbaren, sichtbaren oder vorstellbaren Form – ausgedrückt wird, darf nur als ein Zeichen, ein Hinweis aufgefasst werden, der den Sinn auf ein Verborgenes aufmerksam macht, das mächtiger, umfassender und weniger vergänglich ist als alles, was sonst menschlichen Augen und Gefühlen vertraut ist. (…)
Denn das Reich der Formen (rūpa) sowohl wie das der Namen (nāman), die Sphäre des Greifbaren wie die des Denkbaren, beide sind bloße Spiegelungen. Man kann sie nur verstehen, wenn man sie als die Manifestation von etwas Höherem, etwas Unbegrenztem erkennt, das sich jeder Definition versagt, mag diese nun in den Formeln einer frühen wundergläubigen Theologie oder in den Hypothesen einer späten realistisch eingestellten Wissenschaft bestehen. (…)
Diese letztwirkliche Kraft im Universum und im Menschen transzendiert die Welt der sinnlichen wie auch der begrifflichen Wahrnehmung; sie ist daher neti neti, «weder das (neti)noch das (neti).» Es ist das, «vor dem Worte und Gedanken umkehren, denn sie erreichen es nicht».“[12]
Die Suche der ersten indischen Philosophie gilt demnach dem nicht-Sprechbaren. Die Philosophie definiert sich somit in diesem Zusammenhang erneut, sie definiert sich als die zum Scheitern verurteilte Disziplin, sie wird die Wahrheit nicht sagen können. Die Philosophie zeigt sich folglich auch als Anti-Wissenschaft, denn selbst wenn sie versuchen möchte eine Methode anzuwenden, so wird diese Methode nie die der Wahrheit sein. Denn es bleibt der größte Zweifel dieser alten Denker*innen, ob das nach dem man strebt, das was als Verborgenes gewusst ist, auch das Gesuchte ist. Als komplizierte Form der Sprachphilosophie machen die Denker*innen der Upaniṣaden zum ersten Mal darauf aufmerksam, dass Begriffe Denkkonzepte und Vorannahmen sind, dass sobald wir etwas benennen, wir nicht mehr völlig frei sind das Benannte anders zu leben oder wahrzunehmen.
Sprachphilosophie als die Suche nach dem Nicht-Sprechbaren
Die zeitgenössische Philosophie liefert uns mit Judith Butlers Sprachphilosophie im Kontext der Queer Studies eine Theorie zu diesem Thema. Vereinfacht kann ihre prägende Aussage so zusammengefasst werden: Als Mädchen werden wir nicht geboren, wir kommen zur Welt und werden vom ersten Moment an als solche benannt, die Sorge der Eltern gilt dem Mädchen, es wird ein Name für ein Mädchen gefunden … am Ende meinen wir Mädchen zu sein. Doch was ist das, ein Mädchen und warum meinen wir uns in diesem Begriff zu finden?
Die Upaniṣaden stellen sich erstens gegen jede Form von Dogmatismus, den die Veden in Form einer strengen Ritualtheorie vertreten, sowie sie beginnen an der Sprache zu zweifeln. Sie können als eine Form von Differenzphilosophie bezeichnet werden, die es sich zum Ziel macht die produktiven Zwischenräume zu erforschen, sich gleichzeitig von einer fixierten Verbindung zwischen Worten und Dingen verabschiedet.
„Wenn man den »Geist«, manas, nennt, steigt man immer eine Stufe hinauf (oder hinab – es macht keinen Unterschied). Der Geist ist nie auf derselben Ebene wie das Übrige. Er kann allgegenwärtig sein oder abwesend. In keinem Fall ändert sich etwas bei der Beschreibung und dem Ablauf der Geschehnisse. Die Annahme, das Ganze sei undenkbar, wenn der Geist fehlt, ist ebenso wenig überzeugend wie die Annahme, es sei denkbar nur ohne den Geist. Das erste Kennzeichen des Geistes besteht darin, dass er es nicht erlaubt, Gewissheiten zu formulieren, weder über seine Anwesenheit noch über seine Abwesenheit.“[13]
10 Sutren
- Die Upaniṣaden entstehen aus den Veden, sie sind philosophische Reflexionen geboren aus dem Zweifel am Opfer-Ritual.
- Die Upaniṣaden vertreten einen Nicht-Dualismus. Kosmos und Einzelnes sind verschiedene Gesichter des Verborgenen, des letzten Grundes …
- Die Upaniṣaden grenzen sich von den Veden ab, indem sie das Universum depersonalisieren. Es bedarf nicht mehr der Güte der Gött*innen um glücklich zu leben, es bedarf des Wissens um die Erscheinungen, um die Benennung des Sichtbaren.
- Die Erkenntnis passiert nicht zum Selbstzweck. Ziel der Upaniṣaden ist umfassendes Verständnis, das es erlaubt die eigne Existenz zu verstehen und zu meistern.
- Die Upaniṣaden beschäftigen sich mit dem Suchen von Äquivalenzen, das Kleinste steht mit dem Größten in Verbindung, die sich stellende Frage lautet: Wie?
- Gött*innen werden in diesem Kontext zuerst als Wesen verstanden, die sich wandeln, die Upaniṣaden gehen weiter und beschreiben eine Kraft, die mächtig ist sichtbar werden zu lassen, aber jedoch selbst keinerlei Gestalt hat.
- Das Feueropfer braucht Agni (das Feuer oder den Gott des Feuers) und eine Opfergabe. Das Feuer trägt in seinem Rauch die Gabe zu den Gött*innen.
- Als das materielle Opfer durch Spekulation ersetzt ist, beginnen Śraddhā – das Vertrauen, dass das Unsichtbare auf das Sichtbare wirkt und umgekehrt – und Satya – Wahrheit – für Feuer und Opfergabe einzustehen.
- Der Wunsch dieser alten Philosoph*innen ist es das Nicht-Sprechbare durch Sprache zu erreichen.
- Wir lernen eine negative Form der Erkenntnis kennen: «weder das (neti) noch das (neti).» Es ist das, «vor dem Worte und Gedanken umkehren, denn sie erreichen es nicht»
Literaturverzeichnis
Calasso, R. (2015). Die Glut. München: Carl Hanser Verlag.
Zimmer, H. (2016). Philosophie und Religion Indiens. Berlin: Suhrkamp.
[1] (Calasso, 2015, S. 59-60)
[2] Orthodoxe Philosophie in Indien akzeptiert die Veden als gültige Grundlage. Der Veden gibt es vier und sie gelten als göttliche Offenbarung. Ṛg Veda (Loblieder), Atharva Veda (Wissen von den Zaubersprüchen), Sama Veda (Wissen von Melodien und Gesängen), Yajur Veda (Wissen von den Opfersprüchen)
[3] Der Brahmane ist der Leiter des Opfers, er muss die vier Veden kennen, ist ein Priester. Dieser Name geht auf brahman in der philosophischen Bedeutung zurück. Brahman ist die Essenz der Welt – etwas verkürzt ausgedrückt.
[4] (Zimmer, 2016, S. 304)
[5] (Zimmer, 2016, S. 304)
[6] Zusatz, Hausknotz
[7] (Zimmer, 2016, S. 304)
[8] (Zimmer, 2016, S. 307)
[9] (Calasso, 2015, S. 44)
[10] (Calasso, 2015, S. 45)
[11] (Calasso, 2015, S. 44)
[12] (Zimmer, 2016, S. 308-309)
[13] (Calasso, 2015, S. 59)