Überlegungen im Zuge der Einladung zur Podiumsdiskussion „Wa(h)re Werte“ in der Architektur, Augsburg (19.11.2019)
Angenommen; Menschen brauchen nie nur Schutz und Nahrung, sondern auch Sich-Wohlfühlen im Raum ist Grundbedürfnis. Es gibt Sehnsucht nach Schönheit. Der Wunsch nach technisch bespielter Realität ist evident, wenn Wohnen nur pragmatisch ist. Künstliche Ambiente schenken Stimmungen, die als natürlich und authentisch erinnert werden.
Wann spricht Einfaches an? 30 Quadratmeter in einer großen Stadt – Gasofen –, an mehreren lauten Straßen und mit dünnen Wänden, sind einfach. Mit Sicherheit jedoch können Technik, Dämmung, könnten künstliche Ambiente an einem solchen Ort das Leben bereichern. Möchte man Bewohner*innen von der Einfachheit überzeugen, muss Einfachheit zur Wahl stehen, die nicht deprimiert.
Wie kann eine Architektur der Einfachheit, nicht nur an speziellen Orten, für eine ausgewählte Personengruppe funktionieren? Oder: Architektur muss sich der individuellen Situation annehmen, allgemeine Regeln schlagen meistens fehl, da die Architektur der kritischen Lebenshaltung entspricht, die sich immer neu auf gegebene Möglichkeiten hin entwerfen muss?
In der Kritik als Gesellschaftskritik können mit dem Wiener Philosophen Hakan Gürses drei bekannte Formen unterschieden werden. Diesen stellt Gürses die atopische Kritik gegenüber. Die topische Kritik wendet sich hin zu den Maßstäben der Gesellschaft in der sie stattfindet, sie erinnert an die Grundlagen, die das Entstehen dieser Gesellschaft möglich gemacht haben. Sie ist immanente Kritik, die identitätsstiftend wirken kann und die Grundlagen des Zusammenlebens der betroffenen Gesellschaft oder Gruppe nicht in Frage stellt.
Die utopische Kritik entwirft einen Ort von dem die bestehende Gesellschaft aus kritisiert werden kann. Um sich nicht an Normen orientieren zu müssen, zeichnet die utopische Kritik einen Ort, der anders funktioniert als die Gegenwart. DORT muss verstanden werden als höhere Form »des Gesellschaftlichen«.
Die ideotopische Kritik ist Kritik, die perspektivisch argumentiert. Sie findet keinen vermeintlich objektiven Boden in Normen oder einer besseren Form des zukünftigen Zusammenlebens, sondern WIR, eine Gruppe, die für sich sprechen möchte, ist Fundament.
Alle diese Formen beginnen flexibel, sie zeigen auf was noch nicht gesehen wurde. Ihr Verlauf allerdings endet in der Theorie, im Allgemeinen, in den klaren Richtlinien, im Rechthaben.
Wie ist nun die atopische Kritik zu verstehen, die sich von ihrem Boden nicht vereinnahmen lassen möchte, die versucht ohne Fundament zu sprechen?
Die atopische Kritik möchte versuchen ohne Verallgemeinerungen auszukommen. Eine Aufgabe, die in der Philosophie sehr schwierig ist, die in der Architektur besser angesprochen werden kann. Ist zwar die Architektur (manchmal) ortsgebundene Kunst, so ist die Architekt*in jene Forscher*in, die erkennen kann, dass Ort nie ist, sondern nur als Bewegung oder Veränderung existiert.
Wie sich im Besonderen orientieren? Ich komme zurück zu Hakan Gürses. Drei Formen von Kritik hat er aufgezählt. Die topische Kritik, die utopische Kritik und die ideotopische Kritik. Die Kritik von den Grundlagen der eigenen Gesellschaft aus, die Kritik, die ihren Ausgang von einem wünschenswerten Ort in der Zukunft nimmt, die Kritik der Revolte, die schreit: Hier sind wir! Alle drei Formen enden nach einer Phase der spontanen Erkenntnis in Theorie und Geschlossenheit. Wie könnte atopische Kritik im Bauen aussehen? Bei Gürses geht mit der Kritik die Beschreibung des Subjekts als Gespaltenem einher. Jede Kritiker*in ist beschrieben, von Mitmenschen und Wissenschaften… In diesem Sinn ist Sie unterworfen und fixiert, wird benotet, lebt die allgemeinen Regeln des Lebens. Die Kritiker*in ist momentan. Sie reagiert ohne allgemeine Gründe auf Situationen, ist unpassend.
Ich möchte die Architekt*in in dieser Weise beschreiben, sie plant entlang allgemeiner Regeln, muss konkret / spontan entscheiden.
Womit ich zu den allgemeinen Regeln im Bauen zurückkommen möchte. Eine Liste von Regeln für neue und nachhaltige Architektur auszuformulieren erscheint mir gefährlich. Da eine solche Liste denen, die glauben die Regeln richtig anzuwenden, erlaubt zu gut zu schlafen, sowie die Verurteilung anderer möglich wird, die scheinbar nicht entlang der Regeln arbeiten. Zwei Phänomene, die unsere gegenwärtige Welt belasten. (Ich möchte an dieser Stelle natürlich nicht gegen Minimalanforderungen argumentieren!)
Ich nehme die drei Kritikformen auf, die abseits der atopischen Kritik passieren, Theorie sein können, um sie als Spielzeug zur Reflektion zu gewinnen.
Vorschlag: Der Versuch ist das Gespräch, das einzelnen Projekten drei Fragen stellt.
- Wie würden die Alten darüber denken, was waren die Wichtigkeiten zu einer Zeit als das Zusammenleben weniger raffiniert war?
- Welche Gesellschaft werden wir bekommen, wenn wir einen allgemeinen Stil des Bauens aus eben diesem Projekt entwickeln würden?
- Wie werden sich die vom Bau Betroffenen fühlen, welche Einwände haben sie?
Als Abschlussfrage möchte ich die nach der Paradoxie aufwerfen. Möchte man die drei vorangegangenen Fragen ehrlich beantworten, so beginnt der Streit im Kopf der Architekt*in. Möchte man ein Manifest ausformulieren, so würde es das der methodisch verunsicherten Architekt*innen sein, die nicht mehr wissen, was Bauen bedeutet, aber jedoch ihre Projekte mit enormem Selbstvertrauen gegen jene verteidigen, die immer noch glauben wahr zu sein.