Said, Edward W.: Orientalismus, Frankfurt am Main, Fischer Verlag, 2014

Wissenschaft?

„Erforschen, verstehen, erkennen, einschätzen sind, auch wenn sie schmeichlerisch als »Harmonie« verkleidet werden, Mittel der Eroberung.“ (355)

„Jedenfalls scheint es eine menschliche Schwäche zu sein, die schematische Autorität von Texten höher zu bewerten als die Verstörungen aus den direkten Begegnungen mit dem Menschlichen. (…)
Zwei Situationen begünstigen eine solche Einstellung. Zum einen die direkte Konfrontation mit etwas Bedrohlichem, das man zuvor höchstens aus der Ferne kannte. In diesen Fällen greift man nicht nur auf vergleichbare Erfahrungen, sondern auch auf Gelesenes zurück. Reiseführer bieten sich insofern gerade deshalb an, weil Menschen eben dazu neigen, Texte zu Rate zu ziehen, wenn die Ungewissheiten des Aufenthalts in der Fremde sie aus der Ruhe zu bringen drohen.“ (113)

Der Orientalismus bedeutet für Said die Vereinnahmung und Konstruktion des »Orients«. Eine Einheit wird als zu Beherrschende erschaffen, um eine andere in ihrer Herrschaft als Kolonialmacht zu legitimieren (den Westen – ein Kampfbegriff selbst). Der Orientalismus soll in diesem Sinne nicht als eine Erfindung des »Westens« beschrieben werden, sondern als Systematik, die einerseits die westliche Sicht auf den Orient bestimmt, sowie eine allgemeine Kultur, eine orientalische Kultur behauptet, diese im wiederholenden Sprechen ins Lebens bringt.

Wie ist es möglich eine Vormachstellung zu erschaffen, die Beschreibungen legitimiert? Es ist die Behauptung von Objektivität, die Said als Machtinstrument eines Sprechens beschreibt, das sich selbst als westlich und herrschend festigen und erzählen möchte und dazu den zu beherrschenden Orient als Gegenteil fixiert, als nicht objektiven, politischen oder gar emotionalen Ort des Sprechens, als notwendig zu beherrschendes Areal.

„Hier möchte ich nun erörtern, auf welche Weise die liberale Übereinkunft, dass »wahre« Erkenntnisse grundsätzlich unpolitisch sind (und daher umgekehrt eindeutig politische Erkenntnisse nicht »wahr« sein können), die hochgradig, wiewohl nicht transparent organisierten politischen Bedingungen des Wissenserwerbs verschleiert.“(19)

These 1: Wissenschaft, die sich als westliche versteht, ist enorm tendenziös. Oder, wie gefährlich ist die Verallgemeinerung vermeintlich objektiver Forschung? Was passiert, wenn die Wissenschaftler_In sich als im Labor vergisst?

„Freilich folgt daraus nicht unmittelbar, dass alles akademische Wissen über Indien und Ägypten von den politischen Gewaltverhältnissen durchsetzt und geprägt ist – doch gerade das behaupte ich in dieser Studie über den Orientalismus. Wenn es also zutrifft, dass geisteswissenschaftliche Erkenntnisse niemals die persönlichen Lebensumstände ihres Urhebers ausblenden oder verleugnen können, so muss dies auch für einen Europäer oder Amerikaner gelten, der den Orient erforscht. Das heißt, er sieht den Orient in erster Linie mit den Augen eines Europäers oder Amerikaners und erst in zweiter aus seiner individuellen Perspektive. Dabei ist die Nationalität auch kein bloßes Beiwerk, sondern schlägt sich in dem (zumindest vagen) Bewusstsein nieder, einer Macht mit eindeutigen Interessen und, wichtiger noch, einem Erdteil mit fast bis auf die Zeit Homers zurückgehendem historischen Engagement im Orient anzugehören.“ (21)

Der Orientalismus ist ein Glaubensgebilde, dass in Wechselwirkung zwischen Autor(I)nnen als Individuuen, ihrer nationalen Ambitionen (bewusst oder unbewusst), ihrem Streben nach Anerkennung innerhalb eines »wissenschaftlichen oder künstlerischen Diskurses« erdacht und materialisiert wurde. Als Westen wollten sich verstehen England, Frankreich, die USA und auf Schriften von Autor(I)nnen aus diesen Regionen ist der Orientalismus gebaut.

These 2: Der Orientalismus spricht für jene, denen man ihre Stimme versagen möchte. Oder, wie gefährlich ist es im Namen anderer zu sprechen, ob wohlwollend oder feindlich?

„Also muss man vor allem auf den Stil, die Redefiguren, das Szenario, die Erzählformen, die historischen und gesellschaftlichen Umstände achten und eben nicht auf die richtige oder originalgetreue Darstellung. Um das Prinzip der Offenlegung zu legitimieren, zieht man immer irgendeine Spielart der Binsenweisheit heran, dass der Orient gewiss selbst für sich sprechen würde, wenn er nur könnte; da er dies aber nicht könne, müssten westliche Sachverwalter ihm diese Aufgabe wohl oder übel abnehmen. Wie Marx in Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte feststellte, »Sie können sich nicht vertreten, sie müssen vertreten werden«.“ (32)

Was tun?

„In seinen Gefängnisheften schreibt Gramsci: »Der Anfang der kritischen Ausarbeitung ist das Bewusstsein dessen, was wirklich ist, das heißt ein ›Erkenne dich selbst‹ als Produkt des bislang abgelaufenen Geschichtsprozess, der in einem selbst eine Unendlichkeit von Spuren hinterlassen hat, übernommen ohne Inventarvorbehalt. Ein solches Inventar gilt es am Anfang zu erstellen.«“ (37)

These 3: Said beobachtet in den besprochenen Literaturen (wissenschaftlich und literarisch), dass die Orientalen als zeitlose Schablonen beschrieben werden. Fixierte Begriffe vermögen sie dort zu beschreiben. Oder, der Orientalismus ist Wissenschaftlichkeit im schlechten Sinn. Er ist als Verallgemeinerung seiner Ergebnisse und macht eben diese durch ihre Verallgemeinerung wahr. Ein Kanon von Autoren wiederholt die Begrifflichkeiten zum Orient und die ambitionierte Student_In übernimmt sie als Wahrheit. Der Orientalismus ist ein besonders auffälliges Beispiel für Wissenschaftlichkeit, die sich nicht selbst überdenkt, sondern ihre Ergebnisse in einen Krieg der Wahrheiten schickt, wo wahr ist was zitiert wird. Der Orientalismus ist Wissenschaft als Denkverbot.

„(…) man sollte also den Orientalismus besser nicht als ein positives Denkmodell auffassen, sondern mehr als ein Denkverbot oder eine Denkhemmung.“ (55)

Eine Stunde der Geburt für den Orientalismus ist nach Said Napoelons Ägyptenfeldzug. Der durch Buchwissen vorbereitet wird und vom spezialisierten Forschungsinstitut unterstützt ist, das mehr Wissen über Ägypten sein eigen nennt, als es dem »Ägypter« als zugänglich glaubt.

„Zwar versuchen alle Autoren den Orient zu schildern, wichtiger ist jedoch, in welchem Maß die innere Struktur des jeweiligen Werkes eine umfassende Interpretation anstrebt. Meistens läuft diese nämlich, kaum überraschend, auf eine romantische Verklärung oder Revision des Orients hinaus, die ihn für die Gegenwart retten soll; das heißt, jede strukturierende Interpretation des Orients ist eine Art Wiederaufbau.“ (185)

Im Orientalismus begegnet man beständig dem Wunsch, einer Region ihre eigene Größe zurückzugeben, sie zu entwickeln, zurückzuentwickeln, zu einer alten Gesellschaft, die sie scheinbar gewesen sein mag, Menschen als Museum zu entwickeln, als Statist_Innen, die ihre Aufträge direkt vom Direktor empfangen, das ist das Ziel.

„Eine Region aus der jetzigen Barbarei wieder an ihre frühere Größe heranzuführen; den Orient (zu seinem eigenen Vorteil) in den Organisationsformen des modernen Westens zu unterweisen; militärische Macht in den Dienst zu stellen, um den ruhmvollen Wissenserwerb während der politischen Beherrschung des Orient zu verherrlichen; den Orient zu formen, ihn im vollen Bewusstsein seines Platzes in der Erinnerung, seiner Bedeutung für die imperialistische Strategie und seiner Rolle als ein »natürlicher« Besitz Europas neu zu gestalten; das gesamte bei der kolonialen Expedition erlangte Wissen mit dem Titel »Beitrag zur modernen Wissenschaft« zu würdigen, obgleich man die Einheimischen weder einbezogen noch anders behandelt hatte, als Prätexte für einen nicht ihnen selbst dienenden Text; sich als Herr über die Geschichte, Zeit und Geographie des Orients aufzuspielen; neue Fachgebiete und Disziplinen einzuführen; alles in Sicht (und außer Sicht) zu unterteilen, zu verwerten, zu schematisieren, einzuordnen, zu indizieren und aufzuzeichnen; alle beobachtbaren Einzelheiten zu verallgemeinern und aus jeder Abstraktion ein unumstößliches Gesetz über die Natur, das Temperament, die Mentalität, die Sitten und Bräuche des Orients abzuleiten; und vor allem die lebendige Wirklichkeit in Stoff für Texte umzuwandeln, die Wirklichkeit zu besitzen (oder dies zu glauben), nur weil nichts und niemand im Orient der eigenen Macht zu widerstehen scheint: Das sind die in der Description de l’Égypte, einem Produkt von Napoleons vollends orientalistischer Vereinnahmung Ägyptens mit Hilfe der westlichen Wissenschaft und Macht, auf die Spitze getriebenen Merkmale seiner orientalistischen Projektion.“ (105)

These 4: Das Geschriebene nimmt im Orientalismus das Lebendige in Besitz. Oder, wie gefährlich ist die Schriftstellerei? Es gibt die Annahme, dass Orte und Erlebnisse als Buch beschrieben werden können, als Text oder Bild wiedergegeben werden können. Und es ist die merkwürdige Autorität, die mit dem Fixierten und Dauerhaften einhergeht, die solche Dokumente in ihrer Anerkennung übersteigert. Weil ein Dokument schon lange da ist, ist es nicht wirklicher als der vergängliche Moment und dennoch scheint jede Leser_In zur Zeugin einer Wahrheit zu werden, die dennoch lediglich unter den Bedingungen ihrer Entstehung etwas aussagen kann, nicht allgemein.

„Dabei ist eine ziemlich komplizierte Dialektik der Verstärkung am Werk, so dass Lektüre Erfahrungen determiniert, was wiederum Autoren veranlasst, Themen aufzugreifen, die durch Erfahrungen von Lesern geprägt sind. So kann ein Buch über die Bändigung grimmiger Löwen eine Reihe weiterer über Themen wie die Grimmigkeit von Löwen, die Ursachen der Grimmigkeit et cetera nach sich ziehen. Und je stärker die Bücher sich auf das Thema konzentrieren (das heißt auf die Grimmigkeit und nicht auf die Löwen selbst), desto mehr kann man damit rechnen, dass die empfohlenen Strategien die Grimmigkeit zwangsläufig noch steigern werden, da sie nun das Wesentliche, ja sogar Einzige ist, was wir über die Löwen wissen können.“ (114)

Anleitung 1: Freue dich, wenn deine Texte als nicht wissenschaftlich beurteilt werden, übe dich jedoch gleichzeitig darin zu beschreiben warum sie wissenschaftlich sind. Versuche neue Diskurse zu eröffnen, auch wenn du vermutlich nur scheitern kannst.

„In ihrer Gesamtheit begründen dieses Wissen und diese Realität dann eine Tradition oder das, was Michel Foucault »Diskurs« genannt hat, dessen Materialität oder Gewicht in Wirklichkeit für die Texte verantwortlich ist, die aus ihm entstanden sind, und nicht die Originalität eines bestimmten Autors.“ (115)

These 5: Die Frage wird dringlich, ob Studien über beispielsweise Frauen, über andere, die scheinbar vertreten werden müssen, objektiv sein dürfen? Nein, sei an dieser Stelle behauptet, es sei denn ein unfehlbarer Gott wird bewiesen und eben jener erklärt sich – unentgeltlich – dazu bereit nämliche Studien zu verfassen. Mensch ist zu mangelhaft, um über Mensch mit Wahrheitsanspruch zu sprechen. Und an eben diesem Punkt wird offensichtlich, warum abwertende Diskurse, wie der Orientalismus, trotz ihrer sichtbaren Unwahrheiten immer wieder aufgegriffen werden, man braucht eine Form von Wissenschaft, die Unterschiede zwischen den Menschen etabliert. Um manche als weniger mangelhaft als andere beschreiben zu können, um manche als die legitimer Weise Besitzenden zu behaupten.

Um sich auch sicher sein zu können, wer man ist und wen man beherrschen darf, müssen Kulturen fixiert und Sprachen verfestigt werden, es braucht die Philologie, die im Labor bestimmt was orientalisch und was im Gegensatz dazu westlich ist. Jede Form von bedrohlicher Wissenschaftlichkeit, die von außen einbricht, muss dem Akademismus geopfert werden, um nicht politische Änderungen außerhalb der Regeln der Reiseliteratur zu erlauben.

Was erlaubt es den Autoren des Orientalismus, sich als objektive Persönlichkeiten darzustellen, als etwas objektivere Menschen? Es ist oft der private Lebenswandel, der als Beweis eingebracht wird. Das Führen von Freundschaften mit Einheimischen sind Beweis, sie nehmen nie die ganze Person des Orientalisten ein, er bleibt Betrüger, ist nie voll und ganz Freund, immer zuerst Beobachter. Oder, der Orientalist meint sich zu beweisen in der Verweigerung von Körperlichkeit, in der Verweigerung von Heirat, im »Reinbleiben« für die Wissenschaften, für den Orientalismus. Eine Form von vermeintlicher Askese soll den Orientalisten zur Wahrheit befähigen. Doch was ist diese Askese, es handelt sich um keine mönchische Form, sondern um eine Askese des Betrugs, der Orientalist erlernt Sprachen, freundet sich an, um den Freund zu objektivieren.

These 6: Wenn das Leben und Erleben von Autoren eine Rolle spielen soll, im Lesen ihrer Werke, so nur in dem Sinne, als dass es die Schriftstücke in Perspektive setzt, Biographie bringt keine Begabung zur Wahrheit. Der Zölibatäre hat nicht mehr recht als der Verheiratete, die Perspektive ist allerdings verschieden. Jener jedoch, der vorgibt in einem Milieu zu leben, jedoch geheim ein König sein möchte, wie die beschriebene Form des Orientalisten, jener ist lediglich ein Betrüger, ihm ist der Weg zur Wahrheit fremd.

Um nicht an Selbstkritik denken zu müssen, etabliert sich eine Kultur der Überlegenheit, die bestehen kann, weil sie sich im Kreise der Herrschaft und des Besitzes bewegt, die weiterbestehen kann, weil sie ihre Hauptaufgabe darin findet Ausschließlichkeit zu beweisen, aus einer Machtposition Strategien der Enteignung des Denkens und der Selbstbestimmung aller »anderen« konstruiert. Die anderen sind statische Begrifflichkeiten, unter jenen können konkret beliebig viele Menschen unterschiedlichster Kultur und Lebensart versammelt werden. Es sind immer jene, die momentan besessen werden sollen, welche sich unter die Begrifflichkeiten für andere einordnen müssen.

„Jedes Plädoyer für »unsere« Kunst, das Arnold, Ruskin, Mill, Newman, Carlyle, Renan, Gobineau oder Comte hielte, bildete ein neues Glied in der Kette, die »uns« verband, und grenzte zugleich einen weiteren Außenseiter endgültig aus. Auch wenn eine solche Rhetorik, wo und wann sie auch aufkommen mag, immer zu diesem Ergebnis führt, darf man nicht vergessen, dass das 19. Jahrhundert sein eindrucksvolles Bildungs- und Kulturgebäude sozusagen angesichts wirklicher Außenseiter (wie der Kolonien, der Armen, der Delinquenten) errichtete, deren Rolle für die Kultur darin bestand, das zu definieren, wofür sie konstitutionell ungeeignet waren.“ (261)

Problem 1: »Unsere« Kunst, die »wir« kennen, ist Müll. Was ist Kunst?

These 8: Geschichten erzählen gegen den Definitionswahn, um gegen statische Systeme, wie den Orientalismus aufzutreten.

„Ein solches statisches System des »essentialistischen Synchronismus«, das ich als Gesamtansicht bezeichne, weil es den ganzen Orient als Panoptikum zu erfassen beansprucht, steht immer unter Druck vonseiten des Narrativen, denn der Nachweis, dass sich Einzelheiten im Orient bewegen oder entwickeln, führt Diachronie in das System ein. (…) Das Narrative zeigt die Fähigkeit des Menschen, geboren zu werden, sich zu entwickeln und zu sterben, es offenbart die Tendenz von Institutionen und Realitäten, sich zu verändern, und damit die Wahrscheinlichkeit, dass moderne und zeitgenössische Zivilisationen schließlich die »klassischen« ablösen werden; vor allem betont es, dass die Beherrschung der Wirklichkeit durch Visionen nicht mehr ist als ein Wille zur Macht, ein Wahrheits- und Interpretationswille, aber keine objektive Voraussetzung der Geschichte. Mit einem Wort, das Narrative öffnet das durchgängige Netz der Gesamtansicht, indem es alternative Standpunkte, Perspektiven und Denkweisen einführt; damit verstößt es gegen die von der Vision bekräftigten heiter apollinischen Fiktionen.“ (274-276)

Said möchte den Orientalismus beschreiben und gleichzeitig Beschreibungen, Theorien einer Perspektivierung unterziehen. So bekommt das Finden von Texten und Dokumenten für Said, eine sehr spezielle Bedeutung.

„Auch wenn man durchaus dazu neigen kann, solchen Thesen zuzustimmen – zumal der Islam, wie ich zu belegen versucht habe, im Westen grundsätzlich falsch dargestellt wird –, liegt das eigentliche Problem darin, ob es überhaupt richtige Darstellungen von irgendetwas geben kann oder ob nicht alle Darstellungen als solche zuerst in die Sprache und dann in die Kultur, die Institutionen und das politische Ambiente des Darstellenden eingebunden sind. Wenn das zutrifft (wie ich meine), so müssen wir annehmen, dass Darstellungen eo ispso mit vielen anderen Dingen als der »Wahrheit«, die ihrerseits eine Darstellung ist, verbunden, verwoben und verknüpft sind. Methodologisch führt dies dazu, Darstellungen (oder Entstellungen – da bestehen allenfalls graduelle Unterschiede) auf ein gemeinsames Spielfeld abzubilden, dessen Rahmen nicht allein Thematisch festgelegt ist, sondern auch historisch, durch Denktraditionen und das betreffende Diskursuniversum. Dieses Feld kann kein einzelner Denker erzeugen, sondern er findet es vor und leistet seine individuellen Beiträge dazu, die auch im Fall außergewöhnlicher Genies Strategien sind, das Material darin neu anzuordnen; und auch wenn jemand ein verlorenes Manuskript wiederentdeckt, stellt er den so »gefundenen« Text in einen vorbereiteten Kontext, denn das ist die eigentliche Bedeutung des Findens.“ (312-313)

Was will Said? Eine Zusammenfassung.

„Die methodologischen Defizite der Orientalistik lassen sich nicht damit erklären, dass der wahre Orient anders sei als alle Theorien über ihn oder dass die Orientalisten als Westler kein richtiges Gespür für sein innerstes Wesen hätten, denn beide Aussagen sind falsch. Ich behaupte nämlich weder, dass es so etwas wie einen echten oder wahren Orient (respektive Islam et cetera) gäbe, noch dass »Insider« ihn besser verstehen würden als »Außenstehende«, um diese Unterscheidung Robert K. Mertons aufzugreifen. Mir geht es im Gegenteil darum, dass »der Orient an sich« ein Konstrukt ist und dass die Vorstellung in höchstem Maße fraglich ist, es gebe dort Regionen mit indigenen, »völlig anderen« Einwohnern, die man auf der Grundlage einer religiösen, kulturellen oder ethnischen Essenz, die dieser Region eigen sei, definieren könne.“ (370)

Viele Fragen möchte Said mit seinem Buch aufwerfen, die zur Wissenschaft führen sollen, die er nicht abschaffen will, sondern erst aktivieren.

„Wie stellt man andere Kulturen dar? Was sind andere Kulturen? Ist der Begriff einer einzelnen Kultur (oder, Volk, Religion, Zivilisation) überhaupt nützlich, oder nährt er nur Selbstlob (in Bezug auf die eigene) oder Feindseligkeit und Aggression (in Bezug auf die »andere« Kultur)? Fallen kulturelle, religiöse und ethnische Unterschiede letztlich schwerer ins Gewicht als soziökonomische oder historisch-politische Kategorien? Erwächst die Geltung von Ideen daraus, dass sie den Status »normaler« oder sogar »natürlicher« Wahrheiten erlangen? Welche Rolle spielen Intellektuelle? Besteht ihre Aufgabe darin, ihre jeweiligen Kulturen und Staaten zu legitimieren? Und welche Bedeutung müssen sie dabei dem unabhängigen, ja oppositionellen kritischen Bewusstsein beimessen?“ (373)

Und es ist die Hoffnung auf die Zukunft und ihr Denken, die Said antreibt.

„Ich hätte dieses Buch auch gar nicht in Angriff genommen, wäre ich nicht davon überzeugt, dass es eine Wissenschaft gibt, die nicht so korrupt oder zumindest blind für die menschlichen Realitäten ist wie die hier beschriebene.“ (374)

Gegen den Okzidentalismus.

„Doch vor allem hoffe ich, gezeigt zu haben, dass man auf den Orientalismus nicht mit einem Okzidentalismus antworten darf. Denn gewiss würde es ehemalige »Orientalen« nicht freuen, dass sie als solche jetzt (höchst) wahrscheinlich ihrerseits neuen, von ihnen selbst geschaffenen »Orientalen« respektive »Okzidentalen« gegenüberstünden. Wenn die Erkenntnisse der Orientalistik einen Sinn haben, so den, daran zu gemahnen, wie sehr das Wissen, und zwar jedes Wissen, zur Erniedrigung verführt. Das gilt heute vielleicht mehr als je zuvor.“ (376)

Keine Angst vor Veränderung.

„Erstens findet eigentlich niemand Gefallen an der Aussage, dass die menschliche Realität einer ständigen Umbildung unterliegt, also im Wesentlichen immer bedroht bleibt. Patriotismus, fremdenfeindlicher Nationalismus und giftiger Chauvinismus sind bekannte Reaktionen auf die daraus erwachsende Furcht. Wir alle brauchen festen Boden unter den Füßen, die Frage ist nur, wie fest und unerschütterlich er sein muss.“ (381)

 

 

 

 


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