Dritter Teil: Etwas Konkret
Boxen und Kreuzung
Zuerst das Boxen
Ein von mir im Philosophie/Stadt Kontext angeführtes Beispiel für eine konzentrierte Gemeinschaft, ist ein Boxclub in Chicago, den Loic Wacquant als Ziel seines Interesses wählt.
Als Pforte zur Erforschung des schwarzen Ghettos Ende des 20. Jahrhunderts. Wacquant forschte dort einerseits als Wissenschaftler, als Soziologe, andererseits aber auch als Boxer.
Im Boxen konnte er eine praktische Form der Erkenntnis finden, im Training eine Schulung von Körper und Geist, die neue Wahrnehmung erlaubt.
Wacquant beschreibt den Club als einen Ort der Hoffnung, der streng rituell funktioniert.
Der Club ist die Antithese zu den Straßen, drinnen gibt es fixe Rituale, draußen herrscht ein unausgesprochenes Regelsystem, das zu jeder Zeit individuellen Schwankungen unterworfen ist.
Auf der Straße herrscht der Kampf um das Notwendige, drinnen gelten gefundene Regeln deren einziges Ziel die Optimierung der Fähigkeiten ist. Obwohl das Boxen an diesem Ort dem Broterwerb dienen muss, es der Traum ist ins eigene Viertel als Wohltäter zurückzukehren, wird trotzdem ein anderer Weg des Handelns als auf den Straßen beschritten.
Draußen gilt es zu jeder Zeit sich an die Umwelt anzupassen.
Drinnen unterwirft man sich selbst gewählter Unfreiheit, um auf den Straßen nicht gehorchen zu müssen, um klarsichtig und im Handeln zu sein.
Das Prinzip hinter diesem Versuch ist, dass die eigene Disziplin gewählt wird, um sich so den Pflichten und Verführungen des Alltags entziehen zu können, um frei zu sein.
Es wird ein Parallelleben erschaffen, das Stabilität gibt, ein Fixpunkt ist, das Fluchtpunkt aller Entscheidungen und Urteile wird.
Womit im Kontext Stadt die Frage nach der Religiosität drängend wird, da die strenge Disziplin der Boxer als nichts anderes zu verstehen ist als eine vielleicht zuerst merkwürdig anmutende Form von Gottesdienst.

Zwei: Kreuzung
Dies bringt mich zu meinem letzten Punkt zu einer Kreuzung in Lagos deren einziges Merkmal es scheinbar ist, allgemeine Verrücktheit und Chaos hervorzubringen.
Der Einstieg sei mit dieser Frage genommen:
Wo liegt Lagos?
Die zu Lagos produzierte Literatur macht klar, Lagos ist keine Stadt des Planens und Fixierens. Lagos ist nicht einfach ein Ort auf der Landkarte,
Lagos ist in den Träumen zuhause, es wohnt in den Kindern, die die Krankheit zerfrisst, es schafft und ist ein Kollektiv durch die vergifteten Medikamente, die sich im Blut der Kranken und Traurigen, im Blut der Bedürftigen verteilen.
Zu einer BewohnerIn von Lagos wird man nicht indem man sich am Amt meldet sondern im Inhalieren des Wahnsinns, eines Undefinierten, das sich in alle Lebensbereiche einschreibt, in der Ohnmacht, die jede niederstreckt, die beginnt, sich verantwortlich zu fühlen.
Kurz gesagt, Lagos ist mit Ben Okri gesprochen der Platz der Unmöglichen Moral.
Thema ist abschließend Ojuelegba eine Kreuzung im Zentrum von Lagos, ein scheinbar absurder Ort, der streng genommen nicht funktionieren dürfte.
Womit eine letzte Beschreibung von dem was Stadt ist eingefügt sei:
Zusammenfassend gesprochen, ist Stadt nun kein in seiner Totalität beschreibbarer Umstand, Stadt ist immer etwas, das passiert. Es kann damit nicht definiert werden was das Wort »Stadt« benennen soll.
Stadt sei damit als Magma verstanden als nicht einholbare Pluralität.
Stadt bleibt damit nicht nur als sprachlich-definitorisches Konstrukt offen sondern auch als materielle Existenz. Das Leben arbeitet in den Städten weiter auch wenn wir Denkenden noch keine neuen Beschreibungen für das Gegebene finden können.
Stadt sei damit beschrieben als Existierende als ein Ort der Verwitterung,
Stadt ist zweitens Gezeichnet durch Dichte, die mit gewisser Unüberschaubarkeit einher geht und drittens ist Stadt, durch die Provokation von ungewollten Konfrontationen zwischen Menschen und Menschen sowie Menschen und Dingen ein Ort der Kritik,
ein Ort der möglichen konkreten Überschreitung von allgemeinen Grenzen.
Die Frage, die nun abschließend mit Ojuelegba gestellt werden kann, ist die nach der Konfrontation mit dem Unvorhersehbaren und wie die Begegnung mit dem Fremden passieren kann.

In drei Punkten möchte ich mich der Thematik annähern.
Erstens, wird das Thema Erkenntnis noch einmal wichtig.
Zweitens, möchte ich die Frage nach einer Form von spiritueller Ausrichtung stellen, die im Konkreten der Kreuzung Sicherheit gibt – die Frage nach einer Art materialistischen Religion stellen.
Und drittens, finde ich auch in diesem konkreten Beispiel zurück zum Thema der reflektieren Lebenshaltung, zum Überschreiten allgemeiner Grenzen im Konkreten.
Der Name der Kreuzung in Lagos – Ojuelegba – kann übersetzt werden als der Schrein oder das Auge des Esu Elegbara.
Bibi Bakare-Yusuf und Jeremy Weate, auf deren Arbeit ich meine Überlegungen zu Ojuelegba stütze, berichten, dass Orte in Nigeria stark an ihre Namen geknüpft sind, diese ein Abbild der Organisationsstruktur des Ortes sind.
Ojuelegba meint damit ein Ort der Opfergabe für Esu Elegbara zu sein.
Dieses hinterlistige Wesen aus dem Yoruba Weltsystem trägt die Macht der Worte, ist ein Kommunikationswesen und vermag zwischen der himmlischen- und der menschlichen Welt zu vermitteln.
Ojuelegba zeichnet sich in Lagos als Knotenpunkt mit multipler Nutzung aus, die Kreuzungselemente und Tätigkeiten wechseln so schnell, dass die Kreuzung weniger als Ort, denn als Bewegung beschrieben werden sollte.
Esu Elegbaras Aufgabe ist es den Menschen Vertrauen und Sicherheit zumindest vorzugaukeln. Elegba stellt sicher, dass man sich immer wieder auf diese Kreuzung einlässt, glaubt dort mit Projekten und Erledigungen erfolgreich zu sein.
Bildlich stellen die Erzählungen Elegba in zwei konträren Weisen da. Einerseits als kleines Wesen, das ankommt, um die Suppe zu salzen. Andererseits aber auch als mächtig und mit einem großen Stock regierend.
Kurz gesagt, Elegba kann nicht festgemacht werden und als talentierte Tänzerin ist sie bereits immer am entschwinden.
Ihr Anliegen ist es die Menschen zum Markplatz zu führen, nur um sie dort wieder die Orientierung verlieren zu lassen, welches Bild gerne verwendet wird.
Ziel dieser scheinbar heimtückischen Aktionen ist es die Menschen an den Moment zu binden, sozusagen Kreativität und Wendigkeit zu lehren.
Fertige Pläne haben in diesem Weltbild keinen Platz, Offenheit und Mut sind die zu entwickelnden Eigenschaften.
Als Bewegung kann Elegba nicht an einem Monument festgemacht werden. Sie lebt im Blut der Menschen, sie ist im Straßenlärm und den Verkaufsständen, sie ist eine besondere Form von Bewegung.
Wie wird erkannt an diesem Ort?
Zuerst sei vor dem Hintergund des bereits gesagten Abstand genommen von der Verherrlichung eines Mangels an Infrastruktur, den die BewohnerInnen von Lagos beklagen.
Was wir jedoch von Ojuelgeba lernen können, ist das Treffen von Entscheidungen in Krisenzeiten und mit Immanuel Wallerstein kann argumentiert werden, dass es gegenwärtig unsere ganze Welt ist, die in eine Phase der Krise mit offenem Ausgang eintritt.
Und es ist Wallerstein, der darauf verweist, dass in dieser Phase irgendjemand die Entscheidungen treffen wird, möchten wir uns also einmischen im Moment, ist es an der Zeit Taktiken dafür zu erlernen.
Es ist Henri Lefèbvre, der eine Wissenschaft der Rhythmen vorschlägt. Die StadtbewohnerIn als eine, die erkennen will, schafft ihrem Tun Sicherheit durch ein ganzheitliches Eintauchen in ihre Umwelt, in der Schulung ihrer Sensibilität in Form einer Art von Meditation.
Es ist die Aufwertung des Hörsinns, die Lefèbvre vorschlägt, die helfen soll die gebundene und definitorische Perspektive des Sehsinns aufzulösen. Das Gehör vermag es der Mannigfaltigkeit Raum zu geben.
Ob man möchte oder nicht, mit diesem Vorschlag öffnet sich die Philosophie hin zum mystischen und die Frage nach der Religion muss gestellt werden.
Eine materialistische Religion, ein Denken über die Grenzen der Sprache hinaus. Wie könnte das aussehen?
Das Religiöse geht immer mit einer Form von Universalismus einher
und die zu stellende Frage in diesem Kontext, muss nun lauten, worauf können wir uns verlassen, welchen Begriff können wir kurzfristig an die vermeintliche Stelle Gottes setzen?
Ich möchte davon ausgehen, dass Kommunikation zumindest manchmal funktioniert, auch oder vor allem auf Ojuelegba, da die Passierenden dort offen sind dafür einander zu treffen, ein gemeinsames Anliegen, das Überqueren oder Verkaufen haben.
Vor diesem Hintergrund gibt es nun die Sicherheit zum Zusammenschluss mit anderen und die Wahrheit, die der Einzelnen bliebt, ist es Übersetzungen anfertigen zu können.
Es ist somit die Figur der ÜbersetzerIn, die es vermag sich im nicht reglementierten Raum am Besten zu bewegen. Sie tritt nicht mit vorgefertigten Inhalten auf sondern macht halt in einer Position der beständigen Transformation.
Das religiöse Prinzip ist jenes des leeren sich Einlassens auf einen Ort, geglaubt wird an die Möglichkeit eine Übersetzung anfertigen zu können, die Handeln ermöglicht.
Die Gläubige ist nun die Forschende.
Ein Bild das beispielsweise auch aus dem Sufismus bekannt ist.
Und es ist eben diese Einstellung, die Foucault als reflektierte und philosophische Lebenshaltung bezeichnet.
Elegba und die sie umgebenden Geschichten motivieren die Menschen sich auf den gegebenen Moment einzulassen,
die Nichttrennung zwischen physischer und metaphysischer Sphäre in vielen afrikanischen Sprachen und Kulturen unterstützt das Stattfinden eines absurden Gottesdienstes, der diese Kreuzung ist.

Ojuelegba kann zu einem Erinnerungsort im Sinne von Maurice Halbwachs werden.
Erinnerungsorte sind Konstrukte, die uns helfen eine neue Zukunft zu leben und es ist unsere Aufgabe Erinnerungsorte zu konstruieren und aktuell werden zu lassen, die uns ein friedliches und freies Zusammenleben ermöglichen könnten.
Zu Beginn wurde die Möglichkeit des selbstbestimmten und unmittelbaren Tuns im Garten hervorgehoben und dem Sein in der Stadt angenähert.
Zuletzt wurden die Chancen angesprochen, die neue Erinnerungsorte bringen. Die Frage ist nun endlich: Was bedeutet der Erinnerungsort Garten für uns?
Im Garten wird im eigenen Rhythmus gearbeitet, nur die Pflanzen geben Struktur vor.
Im Garten arbeiten viele zusammen, es braucht keine klaren Aufgaben, eine jede nimmt sich dem an, das in ihr Blickfeld kommt, jede macht sich über die Dinge her, die sie glaubt meistern zu können.
Im Garten gibt es keine Trennung zwischen Arbeit und Freizeit mehr.
Der Garten ist eine von Michel Foucaults Heterotopien, er ist romantisch und regt zum träumen an.
Der Garten steht in jedem Fall dem Bild einer abgeklärten kapitalistischen Gesellschaft gegenüber.
In der Stadt, die sich selbst als Garten erinnern möchte, gibt es keine Trennung zwischen Freizeit und Arbeit, es bleibt das Tun, das sich als sinnvolles verstehen möchte.
Ich möchte nun enden, mich bedanken und der gemeinsamen Suche zum Thema: Meine Stadt gärtnern! Raum geben.


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